Nicht nur wir Menschen gähnen, auch viele Tiere reißen mehrmals am Tag die Mäuler, Schnauzen und Schnäbel auf. Forschende wollen verstehen, welche Funktion das Verhalten erfüllt.
Man kann es nicht anders sagen: Das Projekt, an dem Margarita Hartlieb arbeitet, ist zum Gähnen. In den Jahren 2017 bis 2019 treibt sich die Biologin immer wieder in Zoos und Tierstationen herum, steht stundenlang vor den Gehegen – und beobachtet, wie die Tiere Mäuler, Schnauzen und Schnäbel aufsperren.
Dass nicht nur wir Menschen fünf- bis zehnmal am Tag die Klappe aufreißen und gähnen, ist längst bekannt. Auch bei anderen Säugetieren, ja sogar bei Reptilien, Amphibien, Vögeln und Fischen kann man das Verhalten beobachten. Nur: Wozu ist es gut? Um dem Gähnen auf den Grund zu gehen, haben Fachleute eine eigene Forschungsrichtung gegründet: die Chasmologie (vom altgriechischen Wort chasma, übersetzt: „offener Mund“). Einer der bekanntesten Gähnforscher ist der US-Amerikaner Andrew Gallup. Er meint: Gähnen kühlt das Gehirn, damit es vernünftig arbeiten kann. Läuft der Denkapparat nämlich auf Hochtouren, entsteht dabei Wärme. Das tiefe Einatmen frischer Luft hilft dabei, erhitztes Blut abzukühlen – gerade so, als würde man eine Motorhaube öffnen, um einen überhitzten Motor zu kühlen. Auch bei Müdigkeit gähnt man mehr, um das Gehirn in Schwung zu bringen. In einem Experiment mit Ratten zeigte Gallup tatsächlich, dass die Tiere ihre Gehirntemperatur mit jedem Gähner um 0,11 Grad Celsius senkten.
Für diese Theorie sammelt die österreichische Biologin Margarita Hartlieb ab 2017 weitere Daten. Mehr noch: Sie will beweisen, dass Lebewesen mit besonders großen Gehirnen und vielen Gehirnzellen länger gähnen. Oder anders gesagt: dass schlaue Tiere ihr Superhirn besonders ausgiebig kühlen müssen. Zum Glück haben Forschende schon Zahlen zu den Gehirngrößen verschiedenster Tierarten veröffentlicht. „Mit der langen Liste bin ich dann losgegangen und habe geschaut, wo diese Tiere zu finden sind“, erzählt die 30-Jährige. Zoos und Vogelparks sind für ihre Arbeit perfekt: „Dort findet man viele Arten auf einem Fleck, und die Gehege sind so gebaut, dass man die Tiere gut sehen kann“, sagt sie.
Um die Bewohner beim Gähnen zu filmen, braucht die Biologin eine Kamera, starke Nerven und viiiiel Geduld. „Manchmal hat man einfach Pech. Dann filmt man ein Tier, und die anderen Artgenossen im Gehege gähnen – und wenn man umschwenkt, ist es natürlich andersherum. Es gab Tage, an denen ich meinen kompletten Akku leergefilmt habe, aber nicht einen Gähner erwischt habe“, erinnert sie sich.
Gähnen muss auch einen sozialen Effekt haben
Am Ende zahlt sich die Mühe aber aus: Zu Hause kann Margarita Hartlieb sich ihre Videos ansehen und insgesamt 1291 Gähner von 101 Tierarten auswerten. In ihren Aufnahmen gähnen Flusspferde, Hyänen, Mähnenrobben, Nacktmulle, Gorillas, Zwergmangusten, Keas, Steinkauze und viele mehr. Und tatsächlich: Ein Grünflügel-Ara reißt mit durchschnittlich 3,7 Sekunden viermal so lange den Schnabel auf wie ein winziger Zebrafink. Orang-Utans, die cleversten Menschenaffen, gähnen mit 8,8 Sekunden knapp dreimal so lang wie eine Hausziege und sogar fast sechsmal länger als ein Eichhörnchen. Mit ihren Ergebnissen kann Margarita Hartlieb die „Kühlungstheorie“ bestätigen.
Allerdings sind sich Expertinnen und Experten sicher: Hinter dem Gähnen steckt noch mehr. Es muss auch einen sozialen Effekt haben, also das Miteinander von Lebewesen beeinflussen. Nur so lässt sich nämlich erklären, dass es zwei Gähn-Varianten gibt: das spontane Gähnen und das ansteckende Gähnen. Womöglich spielt dabei Mitgefühl eine Rolle, denn Experimente mit Menschen haben gezeigt, dass wir eher mit Leuten gähnen, die uns nahestehen, als mit Fremden. Es gibt jedoch auch Zweifel daran: Das Gähnen könnte schlicht und einfach ein nachahmendes Verhalten sein, das in uns steckt – so wie wir uns auch kratzen, loslachen oder würgen, wenn andere es tun. Fest steht: Auch Tiere wie Hunde, Wellensittiche, Schweine, Wölfe oder Elefanten können nicht widerstehen, wenn sie Artgenossen gähnen sehen. Margarita Hartlieb hat das während ihrer Aufnahmen im Zoo beobachtet – „vor allem bei Tieren, die in sozialen Gruppen leben“, berichtet sie. „Man ist sich allerdings noch nicht sicher, woher das kommt.“
Vermutlich spielen andere Gründe als Mitgefühl eine Rolle. Ein italienisches Forschungsteam, das Löwenrudel in Südafrika beobachtet hat, fand im Jahr 2021 heraus: Löwen, die miteinander gähnen, führen danach oft auch gleiche Bewegungen aus. Indem sie ihr Verhalten aufeinander abstimmen, könnte das den Zusammenhalt der Gruppe stärken. Weitere Studien müssen nun zeigen, ob das auch für andere Rudel, Herden oder Schwärme gilt.
Und vielleicht wird eines Tages ja auch das Rätsel gelöst, warum Gähnen selbst artübergreifend ansteckend ist. Margarita Hartlieb kann es nach ihren vielen Zoobesuchen auf jeden Fall bestätigen. Sie sagt: „In all der Zeit habe ich selbst wahrscheinlich am meisten gegähnt.“