Interview: „Die meisten Alleinlebenden sind weder allein noch einsam“

Die Zahl der Alleinlebenden in Deutschland wächst stetig. Wird Einsamkeit künftig ein immer größeres Problem für die Gesellschaft? Soziologin Claudia Neu gibt Antworten.

Inzwischen lebt mehr als jeder fünfte Mensch in Deutschland allein. Sind die Deutschen ein Volk von Individualisten?

Auf die Frage antworte ich mit einem klaren Jein. Zwei Faktoren kommen hier zusammen: der demografische Wandel und die Modernisierung der Familie seit der 68er Bewegung.

Einerseits ist die Lebenserwartung in den vergangenen Jahrzehnten sehr deutlich angestiegen, die Menschen werden immer älter. Statistisch gesehen leben Frauen in Deutschland gut fünf Jahre länger als Männer. Frauen haben also in den letzten Lebensjahren ein höheres Risiko allein zurückzubleiben. Das wird sich in absehbarer Zukunft auch nicht ändern und hat wenig mit Individualisierung oder Selbstverwirklichung zu tun. 

Andererseits wechseln Phasen des Alleinlebens sich heute immer wieder mit Phasen des Zusammenlebens ab. Der Auszug aus dem Elternhaus, die erste eigene Wohnung, der Beginn einer Ausbildung oder eines Studiums. Die einen erleben das erste Alleinleben als aufregende Freiheit, andere fühlen sich vielleicht ein wenig einsam. Dann folgen erste Partnerschaften, Zusammenziehen, Beziehungen gehen in die Brüche, es folgt eine Zeit des Alleinlebens und dann vielleicht eine neue Beziehung. Alleinleben ist heute kein Stigma mehr. Es kann ja auch eine Befreiung aus einer unglücklichen Verbindung sein.

Bereitet Ihnen der Trend zum Alleinleben Sorgen?

Nein, denn auch wenn Familien kleiner werden, so verstehen sich die Generationen untereinander heute sehr viel besser als früher. Die Bedeutung von Freundschaften und Nachbarschaften als Solidargemeinschaften nimmt zu. Nachbarn achten aufeinander. Freunde sind eben nicht nur für Schönwetter da, sondern unterstützen sich auch in der Not.

Wie hängen Alleinleben und Einsamkeit in Deutschland zusammen?

Allein zu leben, heißt nicht automatisch einsam zu sein. Aber Alleinleben ist ein Risikofaktor für Einsamkeit. Laut der Zeitverwendungsstudie von 2022 fühlt sich jeder vierte Alleinlebende oft einsam. Besonders betroffen sind die Jüngeren, hier fühlt sich sogar jeder Dritte einsam. Im Gegensatz zu den Alleinlebenden über 65 Jahren sie sind im Vergleich zu allen Altersgruppen am wenigsten einsam – nur 17,6 Prozent.

Wovon hängt das Gefühl der Einsamkeit ab?

In der Forschung definieren wir Einsamkeit als das subjektive Gefühl, nicht ausreichend Kontakt zu anderen Menschen zu haben. Die Bedürfnisse der Menschen nach Kontakt sind sehr verscheiden. Manchen reicht schon eine Freundin, um sich nicht einsam zu fühlen.

Warum gibt es so große Unterschiede zwischen den Altersgruppen in Sachen Einsamkeit?

Wir wissen, dass Einsamkeit nicht linear verläuft, also mit dem Lebensalter nicht einfach ansteigt, sondern eher in Wellen über den Lebensverlauf hinweg auftritt. Besonders Menschen unter 30 sind von Einsamkeit betroffen. Die Jugend ist geprägt von Identitätssuche, Unisicherheiten und oft auch ersten Enttäuschungen und Verlusten, wie dem Zerbrechen der ersten Liebe. Eine zweite Welle zeigt sich dann in den späten mittleren Jahren: Die Kinder sind aus dem Haus und viele fragen sich dann, was sie mit der dritten Phase ihres Lebens anfangen wollen. Da zerbrechen dann viele Ehen oder Beziehungen. Und die dritte Phase betrifft die Älteren ab 85 Jahren. Der Partner ist vielleicht schon gestorben, die eigene Gesundheit und Mobilität lassen nach und der Freundeskreis wird auch immer kleiner. 

Alleinlebende haben auch ein höheres Armutsrisiko. Woran liegt das?

Als Paar kann man die allgemeinen Lebensrisiken besser abfangen. Wenn ich zum Beispiel krank werde oder meinen Job verliere, kann der Partner oder die Partnerin das ein Stück weit kompensieren. Wenn ich allein lebe, fehlt dieser Puffer und die Gefahr wächst, in eine finanzielle Notlage zu geraten. 

Wird das Alleinleben durch Einsamkeit und drohende Armut ein gesellschaftliches Problem?

Ich warne vor Alarmismus, denn die meisten Alleinlebenden sind ja weder allein noch einsam. Trotzdem birgt die Kombination aus Armut, hohem Alter und Alleinsein eine große Gefahr des sozialen Ausschlusses. Das heißt dann, dass man nicht mehr am gesellschaftlichen Leben teilnehmen kann. Hier wird deutlich, dass Einsamkeit eben nicht nur ein individuelles Problem ist, sondern eine soziale Komponente hat. Denn neuere Studien belegen, dass einsame Menschen seltener zur Wahl gehen, ihren Mitmenschen und ihrer Umwelt weniger vertrauen, schließlich auch häufiger antidemokratische Haltungen zeigen.

Wie lässt sich das verhindern?

Armutsbekämpfung ist ein wichtiger Baustein, denn Armut und Einsamkeit sind eng verbunden. Am öffentlichen Leben teilzuhaben, kostet zumeist Geld: Eintrittskarten, Kaffeetrinken, Eis essen. Oder ich brauche Geld für ein Ticket, um Freunde zu besuchen. Wir brauchen mehr konsumfreie Orte wie Parks und Bänke, an denen Menschen sich gern aufhalten oder ihr eigenes Picknick mitbringen können. Es braucht Gelegenheiten, anderen zu begegnen – nicht nur für einsame Menschen.