J. Peirano: Der geheime Code der Liebe: Unser Sohn hat sein Studium abgebrochen und hängt in Marokko herum – was können wir machen?

Der 23-jährige Finn hatte ein Erlebnis, von dem seine Eltern nur durch eine Krankenhausrechnung wissen. Seither hat er fast alle Verbindungen nach Hause abgebrochen. Julia Peirano entwickelt einen Plan, wie die Eltern ihren Sohn wieder zurück in sein Leben holen können.

Liebe Frau Dr. Peirano,

mein Mann und ich sind beide Grundschullehrer und haben zwei Söhne, Finn, 23 und Lukas, 21. Finn ist ein stiller, nachdenklicher Junge gewesen, der nie viel über sich gesprochen hat. Er ist sehr intelligent und hat mit links ein hervorragendes Abitur hingelegt.

Danach hat er angefangen, 400 km entfernt von uns Biologie zu studieren, was ihn schon immer begeistert hat. Er hat im Studium seine erste Beziehung gehabt, mit Peter, und wir hatten das Gefühl, dass er trotz der Pandemie mit seinem Leben zufrieden war. Wander- und Kletterurlaube mit Freunden, eine nette WG, Sport, Meditation. 

Vor zwei Jahren ist irgend etwas in Finns Leben passiert, was ihn sehr verändert hat. Leider spricht er weder mit uns noch mit Lukas darüber, obwohl die beiden sich sehr nah stehen. Wir befürchten, dass er überfallen wurde, wir sind privat versichert und es gab einen unerklärlichen Krankenhausaufenthalt. Finn hat dafür gesorgt, dass wir die Arztberichte nicht sehen können, aber die Rechnung wurde bei uns abgebucht. 

Finn hat sich kurz darauf von seinem Freund getrennt und ist in ein ökologisches Wohnprojekt in den Schwarzwald gezogen. Im Sommer letzten Jahres hat er uns gesagt, dass er eine Auszeit braucht und ist nach Marokko geflogen.

Lange Rede, kurzer Sinn: Es sind jetzt fast zwei Jahre vergangen, und Finn ist immer noch in Marokko. Er hat sich exmatrikuliert, was uns große Sorgen bereitet, da jetzt die wichtigsten Jahre sind, um eine Grundlage für sein Leben zu erlernen. In Marokko lebt er mehr oder weniger von der Hand in den Mund, hat sich ein Häuschen am Strand gemietet und jobbt in einem Café. Er verdient ca. 200 bis 300 Euro im Monat, was in Marokko gerade so reicht. Aber damit verbaut er sich den Rückweg nach Deutschland.

Wir haben ihn am Anfang in Ruhe gelassen, da wir gespürt haben, dass etwas vorgefallen ist. Aber so langsam denken wir uns, dass er mal weitermachen müsste mit seinem Leben. Was soll denn passieren, wenn er keine Ausbildung, kein Studium, keine Krankenversicherung hat?

Was ist, wenn er immer weiter den Anschluss verliert an seine Freunde und uns als Familie?

Lukas hat ihn einmal besucht, mein Mann und ich waren vor drei Monaten zu Besuch. Aber wir waren ehrlich gesagt schockiert von dem einfachen Leben, das er da führt und können nicht verstehen, was er da macht und warum. Mein Mann ist ein sehr rationaler Mensch und hat ihm vor ein paar Wochen mal offen die Meinung gesagt. Er meinte, dass Finn sein Leben ruiniert und sich seine Zukunft verbaut, und dass er mal wertschätzen sollte, was er für Chancen hat in Deutschland oder der EU.

Finn hat sich daraufhin von meinem Mann zurückgezogen und geht nicht mehr ans Telefon, wenn er anruft. Mit mir redet er noch. Ich frage mich jetzt, wie das weitergehen soll. Soll ich das schlucken oder verdrängen, damit ich nicht auch noch sein Vertrauen verliere? Kann ich ihm irgendwie helfen, seinen Weg wiederzufinden?

Ich würde mich über eine Rückmeldung sehr freuen
Beate I.

Liebe Beate I.,

ich kann gut nachfühlen, dass Sie sich Sorgen um Ihren Sohn machen. Das Schwierigste an der Situation ist sicher, dass Finn nicht offen mit Ihnen (und anscheinend mit niemandem) redet und Sie daher nicht wissen, was passiert ist und was in ihm vorgeht. Aber offenbar ist in seinem Leben etwas Gravierendes passiert, das ihn aus der Bahn geworfen hat.

Sie beschreiben, dass Finn in der Schulzeit und am Anfang des Studiums gut klargekommen ist. Er ist nachdenklich, still und anscheinend stark von seinen Werten gesteuert: Die Natur und der Umweltschutz sind ihm wichtig, außerdem hat er einen guten Draht zu seinen Freunden und versucht, auch auf sich selbst zu hören, wofür seine vielen Aktivitäten in der Natur und seine Meditationspraxis sprechen.

Er war auf einem guten Weg, hatte eine Aufgabe und ein Ziel, und plötzlich hat er alles hingeworfen und sich eine Auszeit genommen, die zwei Jahre dauert. Grundsätzlich spricht es für seine Ernsthaftigkeit, dass er sein Bedürfnis nach einer Auszeit wahrgenommen und sich getraut hat, diese auch wirklich zu nehmen. Das Leben ist für viele Menschen in seiner Generation sehr anstrengend und beunruhigend geworden: Die Pandemie hat gerade seine Altersgruppe hart getroffen, viele positive und soziale Erfahrungen unmöglich gemacht. Außerdem hängt die Klimakrise wie ein Damoklesschwert über seiner Generation, und viele fragen sich, ob es sich überhaupt lohnt, noch ein eigenes Leben aufzubauen, wo doch in absehbarer Zeit die Welt, wie wir sie kennen, nicht mehr existiert. Das ist ein großes Gewicht auf den Schultern der jungen Menschen, und gerade die nachdenklichen, stillen Menschen mit starker Wertorientierung können das kaum ertragen.

Doch es klingt an, dass noch etwas passiert ist, das Finn persönlich angegriffen und traumatisiert hat. Ein Überfall, wenn es denn einer war, kann einem Menschen das Gefühl geben, dass seine Welt nicht sicher ist. Wenn er dabei gedemütigt worden ist, kann das lang anhaltende Veränderungen in ihm auslösen.

Finn hat sich erst einmal in Sicherheit gebracht, sagen wir einmal metaphorisch, dass er sich auf eine einsame Insel zurückgezogen hat, wo er alles hinter sich gelassen hat. Seine Familie, seine Freunde, seinen Freund, sein Studium, Europa. Und auf dieser Insel führt er ein einfaches, abgeschirmtes Leben, was ihm wahrscheinlich Halt und Sicherheit gibt. Das kann für eine gewisse Zeit, sagen wir einmal ein paar Monate, sehr hilfreich sein. Wir alle brauchen immer mal wieder Ferien und Abstand von unserem Alltag, um Kraft zu tanken.

Doch Finn ist auch nach fast zwei Jahren immer noch auf der Insel und es ist kein Fortschritt oder keine Heilung zu erkennen. Man kann sein Verhalten jetzt auch als umfassendes Vermeidungsverhalten sehen, bei dem er sich in einer Komfortzone eingerichtet hat und nicht mehr an seine Grenzen kommt (und kommen will).

Doch wer die Konfrontation mit den angstbesetzten Inhalten vermeidet, vergrößert dadurch über kurz oder lang die Angst. In der Verhaltenstherapie begegnen wir vielen Menschen, die sich seit Jahren mehr und mehr zurückgezogen haben, weil sie Angst vor z.B. Menschenmengen, Hunden, Tunneln oder ihren eigenen Angstgefühlen hatten (die sogenannte „Angst vor der Angst“). Und dadurch entwickeln sie sich zu Menschen, die sich nur noch in ihrer eigenen Wohnung wohlfühlen und Angst haben, die Komfortzone zu verlassen.

Ein wichtiger Therapieschritt ist es, diese Menschen mit den angstbesetzten Situationen zu konfrontieren (zum Beispiel mit öffentlichen Verkehrsmitteln zu fahren oder in den Park zu gehen, wo Hunde sind), um mit der Angst umgehen zu lernen. Das gleiche betrifft auch die Ängste vor traumatischen Situationen, die man erlebt hat, zum Beispiel einem Überfall oder einem Verlust. Wir Therapeut:innen sprechen mit den Patient:innen über die traurigen, angstauslösenden und traumatisierenden Situationen oder rufen sie mit bestimmten traumkonfrontierenden Verfahren noch einmal hervor und helfen den PatientInnen dabei, ihre Gefühle auszuhalten. Dadurch können sie das Trauma verarbeiten.

Es hört sich so an, als wenn Finn eine professionelle Traumatherapie brauchen würde, um seine wie auch immer gearteten Ereignisse zu verarbeiten und danach eine neue Lebensperspektive zu finden. Die Vermeidung, die er jetzt betreibt, wird ihm höchstwahrscheinlich nicht dabei helfen, von der Insel wieder aufs Festland zu fahren und seinen Lebensweg zu suchen. Es kann gut sein, dass seine Ängste durch die lange Vermeidung und das Ausharren in der Komfortzone sogar schlimmer werden. 

Ich denke, dass Eltern dazu da sind, ihren Kindern immer mal wieder einen liebevollen Spiegel vorzuhalten. Ihr Mann hatte sicher inhaltlich in einigen Punkten Recht, als er Finn mit den Auswirkungen, die sein Leben auf seine Zukunft haben kann, konfrontiert hat. Aber er hat sich im Ton vergriffen und Finn abgewertet und verletzt, sodass Finn die Spiegelung nicht annehmen kann. Würde Ihr Mann sich dafür entschuldigen? Das wäre großartig!

Ihnen würde ich raten, einmal metaphorisch gesprochen mit einem Schlauchboot auf die Insel zu fahren und Finn zu fragen, was er eigentlich dort macht, wie es ihm geht und wann er von der Insel kommen möchte. Sie können, wenn das noch nicht geschehen ist, andeuten, dass Sie glauben, dass ihm etwas Schlimmes zugestoßen ist, was ihn aus der Bahn geworfen hat.

Wenn Sie jetzt versuchen, Finn eine hilfreiche Spiegelung zu geben, würde ich Ihnen raten, von Ihren eigenen Gefühlen zu sprechen. Sie können ihm sagen, dass Sie sich Sorgen um ihn machen, dass es Sie hilflos macht zu sehen, dass irgendetwas ihn sehr verletzt hat, aber er sich nicht von Ihnen helfen lassen will. Am besten wäre es, wenn Sie das ohne Vorwürfe formulieren.

Vielleicht vergleichen Sie Finns Situation mit seiner seelischen Verletzung mal mit einer körperlichen. Angenommen, Finn hätte eine chronische körperliche Krankheit, zum Beispiel eine Darmentzündung, dann müsste er ja auch zu Spezialisten und sich behandeln lassen. Ob er will oder nicht. Seelische Probleme sind genau so ernst zu nehmen und müssen genau so ernsthaft behandelt werden wie körperliche, denn sie können auch sehr schlimme Folgen haben: Berufsunfähigkeit, Depressionen, Suizidgedanken oder Suizid selbst, Selbstschädigung, um nur ein paar zu nennen.

Erkundigen Sie sich doch einmal über Möglichkeiten der Traumatherapie, z.B. durch Literatur für Patient:innen. Auf jeden Fall wäre eine Psychotherapie mit Ausbildung in Traumatherapie die richtige Anlaufstelle, und dazu müsste Finn nach Deutschland zurückkommen. Denn Traumatherapie sollte nicht online stattfinden, da die traumatisierte Person in der Regel alleine war, als das Trauma passiert ist, was zu Gefühlen von Ohnmacht und Hilflosigkeit geführt hat. Deswegen ist die Anwesenheit eines mitfühlenden, stabilisierenden und helfenden Menschen (nämlich der Therapeutin oder dem Therapeuten) im Raum ein wesentlicher Wirkfaktor der Traumatherapie.

Seien Sie bei dem Gespräch mit Finn am besten ehrlich und klar, aber auch sehr offen für seine Gefühle und Bedenken. Und führen Sie nach Möglichkeit mehrere Gespräche mit ihm, bei denen Sie klar den Elefanten im Raum benennen (Vermeidungsverhalten auf der Insel) und ihn fragen, wie er wieder an einen Punkt kommen möchte, an dem er Entscheidungen für sein weiteres Leben treffen kann, die ihm guttun.

Ich hoffe sehr, dass Sie mit Finn ins Gespräch kommen können und dass er zum Denken angeregt wird. Er braucht Orientierung und eine Sicht von außen, und ich denke, es wird Ihnen und ihm helfen, wenn Sie nicht stillschweigend weiter mit ihm leiden und meiden.

Herzliche Grüße
Julia Peirano