Sami Nettersheim verabschiedet sich jeden Tag bewusst von seiner Familie – denn Gewalt im Dienst ist für den Polizisten längst Alltag. Was ihn trotzdem weitermachen lässt.
Wenn Sami Nettersheim zum Dienst fährt, weiß er nicht, was ihn erwartet. Sicher ist aber: Gewalt wird er erleben. „Ich habe mit meiner Frau so eine Regel: Egal was passiert, auch wenn wir uns mal gestritten haben, wir gehen nie im Schlechten auseinander“, sagt der 42-jährige Polizeihauptkommissar in Remagen. „Ich gebe meiner Frau einen Kuss zum Abschied. Ich verabschiede mich von meiner Frau, von meinen Kindern, weil ich nicht weiß, was im Dienst passiert.“
Gewalt gehört zum Alltag bei den Einsätzen des Dienstgruppenleiters, sei es verbal oder körperlich. „Allgemein habe ich das Gefühl, dass eine grundlegende Aggressivität innerhalb der Gesellschaft herrscht, Ellbogengesellschaft“, sagt er. „Verbale Gewalt, nahezu täglich passiert die bei uns, sei es durch irgendwelche lapidaren Sprüche, aber auch gezielte Beleidigungen uns gegenüber bei Einsatzmaßnahmen, auch von Unbeteiligten, die wirklich schon hingenommen werden.“
„Ich wollte immer schon Polizist werden“
Im schlimmsten Fall wird die Gewalt körperlich und endet im Tod von Polizistinnen und Polizisten, wie vor zwei Wochen in Völklingen und vorher in Kusel und Mannheim. In Kusel erschoss ein Wilderer eine Polizistin und einen Polizisten, in Mannheim starb ein Polizist nach einem Einsatz, bei dem er mit einem Messer verletzt wurde. In Völklingen wurde ein Polizist nach einem Tankstellenüberfall erschossen.
Mit Nettersheims Vorstellung vom Polizeiberuf hat das wenig zu tun. „Es klingt immer so romantisch, aber ich wollte immer schon Polizist werden“, sagt er. „Ich habe immer schon ein sehr ausgeprägtes Gerechtigkeitsdenken gehabt, wollte immer Menschen helfen und „was Gutes“ tun.“ 2005 begann er mit dem Studium, seit rund 15 Jahren arbeitet er im Wechselschichtdienst.
„Wir haben dann in einem Bachbett gekämpft“
Gefährliche und gewaltvolle Situationen hat er mittlerweile oft erlebt. Manche Vorfälle sind ihm aber besonders im Kopf geblieben. Noch am Anfang seiner Karriere war er mit einem Kollegen unterwegs, um einen Haftbefehl zu vollstrecken. Die gesuchte Person flüchtete – und Nettersheim rannte hinterher. „Ich war damals noch so unerfahren, dass ich dem Jagdinstinkt unterlegen bin und hinter dem Mann her. Und ehe ich mich versah, war ich alleine mit dem, habe ihn verfolgt“, erinnert er sich.
Die Person habe dann versucht, ihn eine Böschung runterzuschubsen, letztlich seien sie zusammen die Böschung heruntergefallen. „Und wir haben dann in einem Bachbett gekämpft“, sagt er. Sein Funkgerät sei durch das Wasser nicht mehr funktionsfähig gewesen. Er habe schließlich die Oberhand gewonnen.
Bei einem anderen Einsatz stand Nettersheim plötzlich vor einem Mann mit Messer. „Ich war mit einer Kollegin als Erstes vor Ort und wir sind auf den psychisch auffälligen Mann getroffen“, sagt er. „Ich habe ihn mehrfach aufgefordert, das Messer fallen zu lassen, beim letzten Mal mit dem deutlichen Hinweis, dass ich ansonsten schießen muss.“ Zum Glück habe der Mann das Messer fallen lassen, sagt der Polizeihauptkommissar. Der Einsatz habe ihn nachhaltig beschäftigt.
„Der tragische Tod von Simon hat mich tatsächlich sehr getroffen“
Noch schlimmer als selbst Gewalt zu erleben, sei es für ihn, wenn seine Kolleginnen und Kollegen Opfer von Gewalt werden. Weil man die Verantwortung füreinander trage, sagt er. „Kusel war für die Polizei Rheinland-Pfalz näher.“ Der Tod des 34 Jahre alten Simon Bohr in Völklingen „war für mich näher“, sagt der 42-Jährige. „Der tragische Tod von Simon hat mich tatsächlich sehr getroffen, weil ich auch zwei kleine Kinder habe im vergleichbaren Alter. Ich habe mich in der Situation gesehen, mich aber auch unglaublich geärgert, weil das nicht hätte passieren dürfen.“
In Rheinland-Pfalz wurden 2024 rund 1.700 Gewaltdelikte gegen Polizeibeamtinnen und -beamte erfasst. Die allermeisten davon fielen in die Kategorie „Widerstand gegen und tätlicher Angriff auf Vollstreckungsbeamte“. Die allermeisten Tatverdächtigen sind Männer.
„Innerhalb von einer Minute in einer lebensgefährlichen Situation“
In seinem Beruf sei es gefährlich, dass solche Situationen „von jetzt auf gleich“ entstehen könnten. „Wie in dem bedauerlichen Einsatz in Völklingen, dass man aus Zufall die Streife ist, die am nächsten da ist. Und dann ist man innerhalb von einer Minute in einer lebensgefährlichen Situation.“
Noch gefährlicher seien vermeintlich harmlose Einsätze, bei denen man nicht wisse, was einen erwarte. „Das ist die größte Gefahr in unserem Beruf, finde ich, wie man ja bedauerlicherweise auch bei dem Todesfall in Kusel gesehen hat“, sagt er. „Es sind die Ad-hoc-Einsätze, bei denen man nicht unbedingt damit rechnen kann, in einen Angriff verwickelt zu werden oder angegriffen zu werden. Das macht das Ganze so gefährlich.“
„Natürlich ist es auch ein Selbstschutz-Effekt“
Als Beispiel nennt er Verkehrskontrollen. „Erstens, wer sitzt im Auto und sind da vielleicht fünf Personen im Auto, die alle der Polizei nicht gut gesonnen sind?“, sagt er. „Die wissen vielleicht, sie haben einen Haftbefehl offen oder sie haben negative Erfahrungen mit der Polizei gemacht. Vielleicht sind Betäubungsmittel oder Waffen im Fahrzeug. Das weiß ich alles nicht. Und deshalb sind das die gefährlichen Situationen, in denen wir uns alltäglich bewegen.“
Nettersheim hat seine eigene Art, mit solchen Erlebnissen umzugehen. Er ist Selbstverteidigungstrainer in Krav Maga, spricht mit seiner „Polizeifamilie“. „Ich bin grundsätzlich ein sehr emotionaler Mensch, ein sehr sensibler Mensch, versuche das aber bewusst privat und dienstlich zu trennen, weil es mich professioneller macht, diese Dinge auch nicht an mich rankommen zu lassen“, sagt er. „Natürlich ist es auch ein Selbstschutz-Effekt.“
Er fahre zur Arbeit und wisse nicht, was an diesem Tag passiere, sagt er. „Für den einen ist es das Schlimmste, aber für mich ist es eigentlich einfach das Allerbeste.“