Die Bürokratie in Deutschland schafft unnötige Hürden und Kosten. Die neue Bundesregierung versprach Abhilfe in 70 Tagen, doch spürbare Veränderungen bleiben aus.
Eine Brücke in der Gemeinde Wust in Brandenburg: Seit 2023 steht das Bauwerk fertig über den Bahngleisen, ist aber nicht nutzbar. Stattdessen bilden sich in dem Vorort von Brandenburg an der Havel noch immer Autoschlangen vor dem Schrankübergang – die Zufahrtsrampen kommen nämlich erst 2026. Das Problem: Nach geltendem Recht müssen Brücken und Zufahrten getrennt genehmigt und ausgeschrieben werden. Während der Brückenbau beschleunigt wurde, verzögerte sich die Ausschreibung und der Bau der Zufahrten aufgrund bürokratischer Abläufe. Kostenpunkt für die Brücke ohne Zufahrten: 17 Millionen Euro bis jetzt.
Das ist nur ein Beispiel der Folgen komplizierter Bürokratie. Egal ob Infrastruktur, Verwaltung oder fehlende Digitalisierung: Die Bürokratielast in Deutschland hat neben unfertigen Bauprojekten und deren alltäglichen Folgen für Anwohner ein weitaus größeres Problem: explodierende Kosten auf dem Rücken der Unternehmer und Steuerzahler.
Die Union will dem Bürokratieabbau in der neuen Regierung deshalb höchste Priorität zukommen lassen. Mitte Mai verspricht Kanzleramtschef Thorsten Frei: „Wir werden uns keine 100 Tage Zeit lassen, sondern unsere Zielvorgabe sind die ersten 70 Tage“, so der CDU-Politiker. Sogar ein Bundesministerium für Digitales und Staatsmodernisierung wurde eigens dafür geschaffen. Unter der Leitung von Karsten Wildberger sollen Hürden wie das E-Mail-Verbot in Ämtern abgebaut und die Verwaltung durch Digitalisierung modernisiert werden. Doch das läuft bislang schleppend, wie eine n-tv-Reportage zeigt.
Erster Meilenstein nicht vor 2026
Bislang sind etwa ein Drittel der Verwaltungsleistungen digitalisiert. Geht es im gleichen Tempo weiter wie bisher, dauere es noch etwa fünf Jahre, bis die staatlichen Verwaltungsleistungen vollständig digital seien, sagt Digitalminister Wildberger. „Manche Kommunen sind weiter als andere“, so der CDU-Politiker bei ntv. Um das zu beschleunigen, müsse man schauen, „wo können wir Dinge beim Bund zentral machen?“ Der erste Meilenstein dafür sei aber erst Anfang 2026 zu erwarten. In der Umsetzung bleibt Wildberger vage: „Wenn es gelingt, ganz konkret einen zentralen Dienst beim Bund anzubieten.“
Mit welchen Schwierigkeiten Mitarbeiter in staatlichen Verwaltungen zu kämpfen haben, schildert eine Amtsmitarbeiterin im Grundbuchamt. „Welche Rolle spielt die Digitalisierung im Grundbuchamt? Leider noch gar keine“, sagt die Frau ntv, die anonym bleiben möchte. „Wir sind nach wie vor nicht digital. Wenn bei uns in der Poststelle eine E-Mail eingeht, dann wird diese zunächst ausgedruckt.“ In Papierform werde diese dann ins Grundbuchamt geschickt, wo überprüft wird, ob derjenige, der die E-Mail geschrieben hat, identisch mit dem Eigentümer ist. „Dann wissen wir, wo dieser wohnt und hoffen, dass die Anschrift aktuell ist, damit wir ihn dann per Brief anschreiben können, er möchte doch noch mal schriftlich einen Antrag stellen. Und erst dann können wir starten.“
Die strengen Bürokratievorgaben belasten nicht nur Ämter, sondern auch mittelständische Unternehmen. Beim Klebstoffhersteller Delo übernehmen mehr als 400 Mitarbeiter zusätzlich zu ihrem eigentlichen Job bürokratische Aufgaben, weil es gesetzlich so vorgeschrieben ist. Umgerechnet seien das zehn Vollzeitkräfte, nur um Bürokratie und gesetzliche Vorgaben zu bewältigen, sagt Delo-Chefin Sabine Herold. „Es ist ein unfassbarer Aufwand. Beauftragte haben wir an der Zahl über 40, aber für jede Funktion braucht man manchmal Mehrfachpositionen.“
Als Beispiel nennt sie die Brandschutzbeauftragte oder Brandschutzhelfer: fünf Prozent der Mitarbeiter müssen diese Funktion haben. Die wiederum müssen benannt, geschult und dokumentiert werden – und das kostet: „Bei Delo alleine für die Beauftragten: 600.000 Euro im Jahr.“ Vieles sei notwendig, die Sicherheit müsse gegeben sein, so Herold. „Aber der Umfang, die Dokumentation, die Schulung dazu – da würde ich mir wünschen, dass man das im eigenen Belangen in unternehmerischer Entscheidung einfach stattfinden lassen kann und nicht diese vielen Vorgaben. Das Ziel muss vorgegeben sein, nicht der Weg.“
Kosten von Bürokratie sind nicht nur Geld
Für den Wirtschaftsweisen Martin Werding ist die Firma Delo kein Einzelfall. „Das ist ein Bild, das sich auf breiter Basis zeigt. Wir haben im vergangenen Jahr in Deutschland insgesamt eine Milliarde Arbeitsstunden für Bürokratie aufgewendet.“ Multipliziert man das mit einem Stundensatz, habe man eine Vorstellung davon, was die Bewältigung der Bürokratie die Wirtschaft insgesamt kostet. „Das sind knapp zwei Prozent des gesamten Arbeitsvolumens“, so Werding. Und das seien nur die sichtbaren Kosten, die mit Zahlen belegt werden könnten. „Die wahren Kosten überbordender Bürokratie sehen wir im Grunde gar nicht. Weil sie dazu führen, dass bestimmte Dinge nicht passieren, dass weniger investiert wird, dass Firmen, die in Deutschland eine Tochtergesellschaft eröffnen wollen, sich das angucken und dann abdrehen.“
Auch deshalb sorgte eine Aussage des selbst erklärten Wirtschaftskanzlers Friedrich Merz für Kritik, in der er die Verantwortung der schwächelnden deutschen Wirtschaft eher auf die Bürger abzuwälzen schien: „Wir müssen in diesem Land wieder mehr und vor allem effizienter arbeiten. Mit Vier-Tage-Woche und Work-Life-Balance können wir den Wohlstand nicht erhalten.“ Der Wirtschaftsweise Werding sieht das anders: „Der schnellere Weg zur Verbesserung geht wahrscheinlich durch eine Phase der Entrümpelung dessen, was wir haben.“ Man müsse idealerweise die 25 Prozent erwischen, die den massivsten Effekt für Investitionsentscheidungen und Standortentscheidungen haben.
Eine Entrümpelung in den ersten 70 Tagen, wie von Kanzleramtschef Frei versprochen, war deshalb wohl eher utopisch. Einen neuen Zeitplan mit konkreten Ergebnissen und klar definierten Meilensteinen gibt es bislang allerdings noch nicht.
Dieser Artikel erschien zuerst bei n-tv.de. Der stern ist wie n-tv ein Teil von RTL Deutschland.