Was für eine Klatsche: Die SPD straft ihren Chef mit einem miserablen Ergebnis ab. Lars Klingbeil gibt sich geknickt. Drohen ihm auf dem Parteitag noch weitere Klatschen?
Drücker, Standing Ovations, Jubelrufe. Lars Klingbeil lächelt, aber die Freude gebührt nicht ihm: Bärbel Bas wurde mit sagenhaften 95 Prozent zur neuen SPD-Co-Vorsitzenden gewählt. Als kurz darauf Klingbeils Wahlergebnis im Berliner „City Cube“ verlesen wird, erfüllt den Saal ein tiefes Raunen: Nur 64,9 Prozent haben ihm das Vertrauen ausgesprochen. Es ist eine Abrechnung.
„Ihr könnt euch vorstellen, das Ergebnis ist für mich ein schweres Ergebnis“, sagt ein sichtlich geschockter SPD-Chef. Was soll er auch sagen?
Nur Oskar Lafontaine hat ein schlechteres Ergebnis erhalten, 1995 war das. Beim Bundesparteitag in Mannheim holte er nur 62,6 Prozent der Stimmen – allerdings in einer Kampfkandidatur gegen Rudolf Scharping. Klingbeil hatte keinen Gegenkandidaten. So gesehen hat Klingbeil als Parteichef erneut Geschichte geschrieben.
Die SPD ringt mit sich, ebenso um ihr Selbstverständnis. Der Frust sitzt tief und hat sich an Klingbeil entladen. Nach der historischen Niederlage bei der Bundestagswahl wirken die Sozialdemokraten desorientiert, verunsichert, nervös. Warum hat die Partei in weiten Teilen des Landes, in allen Alters- und Bevölkerungsgruppen enorm an Zuspruch verloren? Und wie lässt sich der Abstieg wieder umkehren?
Bas und Klingbeil werden als neue Doppelspitze darauf Antworten und das Vertrauen wieder herstellen müssen, Parteichef Klingbeil offenkundig auch selbst. Der Verdruss ist groß.
Bärbel Bas begeistert …
„Die Stimmung ist prächtig“, begrüßt Stephan Weil die 600 Delegierten noch wenige Stunden zuvor im Berliner „City Cube“. Nun könne der dreitägige Parteitag losgehen. Zunächst mit dem Offensichtlichen: Die 16,4 Prozent bei der Bundestagswahl waren eine Zäsur von historischem Ausmaß, auch dem früheren Ministerpräsidenten von Niedersachsen stecken sie noch in den Knochen.
Über die Gründe und die Konsequenzen, darüber müsse hier ausführlich gesprochen werden, sagt Weil, versieht den Arbeitsauftrag aber mit der gut gemeinten Warnung: Man müsse sich von der „oberflächlichen Personalisierung von gemeinsamen Problemen“ hüten. Nicht ausgeschlossen, dass Lars Klingbeil, der in der ersten Reihe vor der Parteitagsbühne sitzt, in diesem Moment ein stummes „Danke“ über die Lippen huscht.
Die heftige Klatsche für Klingbeil ist insofern überraschend, weil die Aussprache nach den Bewerbungsreden seltsam zahm ausfällt. Der Chef wird später sichtlich irritiert sagen, dass er sich gewünscht hätte, dass diejenigen, die ihm ein „Nein“ gegeben haben, auch in der Debatte so offen gewesen wären. Mit einem derart dicken Denkzettel hat wohl auch er nicht gerechnet. Ein erfahrener Genosse hatte es vor der Abstimmung auf diese Formel gebracht: Man könne die Spitze nicht enthaupten, wenn die Partei schon am Boden liege.
Tja.
Bärbel Bas weiß, dass die vergangenen Monate Spuren hinterlassen haben, mitunter Wunden. Schließlich hat Bas als neue SPD-Vorsitzende kandidiert, weil Saskia Esken es nicht mehr tut. Der teils hämische Umgang, der Esken zum Rückzug bewegt haben dürfte, hat auch Bas irritiert.
„Du hast erleben müssen, dass Solidarität nicht immer selbstverständlich ist – auch nicht in der Sozialdemokratie“, sagt Bas. Vom Monitor über der Parteitagsbühne blickt eine ernst dreinschauende Esken auf die rund 600 Delegierten, die laut klatschen. Obwohl viele von ihnen über Wochen und Monate die beklatschte Solidarität haben vermissen lassen. Auch Klingbeils Umgang mit der Debatte, die er lange hat laufen lassen, hat viele irritiert.
Bas hält keine kämpferische Rede. Die Duisburgerin mit Arbeiterbiografie spricht kontrolliert, gibt sich betont bodenständig. Hauptsatz um Hauptsatz fräst sich die ehemalige Bundestagspräsidentin in die geschundenen roten Herzen – voll von SPD-Prosa, frei von Kontroversen. Sozialstaat verteidigen, Arbeitsplätze sichern, mehr Klartext sprechen, Kümmerer-Partei.
Es sind Stanzen, aber sie kommen bei den Delegierten an. Bas wirkt glaubwürdig, wenn sie sich über eine „Faulheitskampagne“ beschwert, wonach immer die „angeblich faulen“ Arbeitnehmer an der wirtschaftlichen Misere Schuld seien. „Das nenne ich Klassenkampf von oben“, ruft Bas in den applaudierenden Saal. Aber reicht das, um die SPD wieder aufzurichten? Durchhalteparolen und alte Rezepte, die schon in der Vergangenheit nicht funktioniert haben?
…und Lars Klingbeil kämpft
Lars Klingbeil nimmt noch den Abschiedsapplaus seiner Vorrednerin Bas mit, als er auf die Parteitagsbühne zu seiner Bewerbungsrede federt. Allzu viel Szenenapplaus wird er die folgenden 39 Minuten nicht bekommen.
Es folgt zunächst eine Art Rechenschaftsbericht; der Versuch einer Erklärung für das, was ihm Teile der Partei als Selbstbedienungsmentalität vorgehalten haben. Als mangelnde Demut vor dem historischen Wahl-Debakel. Klingbeil adressiert die Kritik an seinem Führungsstil, räumt „Fehler“ ein, betont auch seine Verantwortung für das katastrophale Ergebnis. Vielleicht auch, um seinen potenziellen Kritikern schonmal etwas entgegenzuhalten. Offensichtlich: vergebens.
Er habe voll in die Verantwortung für die SPD gehen wollen, es habe einen „Umbruch“ gebraucht, ruft Klingbeil. Dass er den ersten Applaus für seinen Vorstoß bekommt, dass die SPD ein „Debattenort“ sein müsse, kann somit auch als semi-subtiler Hinweis von den Delegierten verstanden werden. Nach der Devise: Ganz genau, Lars, wir wollen mitreden – und keine Ich-AG.
Zu den ersten Rednern in der Aussprache gehört Juso-Chef Philipp Türmer, der die Faxen dicke hat. „Alles eingeübt, alles ganz normal, alles wie immer?“, ruft er erzürnt in die Parteitagshalle. Nach der Bundestagswahl sei der größte Feind die Normalität. Die Partei frage sich, was ihre Zukunft sei. Hallo, SPD-Spitze, hört mich jemand?
Auch Hubertus Heil meldet sich zu Wort, der frühere Arbeitsminister. Er ist bei der personellen Neuaufstellung der SPD leer ausgegangen, und macht in seiner Rede keinen Hehl daraus, mit Klingbeil öfter über Kreuz gelegen zu haben, sieht aber von einem Frontalangriff ab. Schließlich hat er zuvor gelobt, dass sich die Partei in der Aussprache nicht selbst zerfleischt habe.
Und nun, SPD?
Das Wahlergebnis der neuen Doppelspitze zeigt auch: Auf Bas liegen große Hoffnungen, während Klingbeil in den vergangenen Wochen viel Vertrauen verspielt hat. Ob daraus eine Konkurrenzsituation erwächst? Ob das Folgen hat für die Frage, wer für die SPD 2029 als Nummer eins antritt? Möglich. Erfolge und Rückschläge werden sie künftig teilen. Und der Druck ist enorm.
Können sie die Partei rausholen aus dem Umfragetief, das auch seit der Regierungsbildung bei 15 bis 16 Prozent eingerastet erscheint? Die Partei reanimieren und auch inhaltlich neu aufstellen? Sowohl Bas als auch Klingbeil haben Ministerämter, sind der Kabinettsdisziplin unterworfen – darunter könnte die Parteiarbeit leiden.
Das Wahlergebnis von Parteichef-Vizekanzler-Finanzminister Klingbeil zeigt, dass die Genossen nicht vernachlässigt werden wollen. In den nächsten Tagen dürften sich einige Gehör verschaffen, Reiz- und Streitthemen gibt es auf diesem Parteitag noch genug. Nahost-Krieg, Ukraine-Politik, 15-Euro-Mindestlohn.
Für Klingbeil geht es jetzt erst richtig los.