Es ist Abiturzeit – und manche Eltern hängen Plakate vor den Schulen ihrer Kinder auf, um sie anzufeuern. Diese Plakate verraten viel über den deutschen Bildungsdünkel.
Zurzeit brüten viele Schülerinnen und Schüler über ihren Abiturprüfungen. Vor den Fenstern der Gymnasien flattern Plakate, auch von Eltern. „Du schaffst das!“, „Viele Punkte für Dich“ oder „Wir drücken fest die Daumen. Abi 2025“, ist in selbst gemalter Schrift darauf zu lesen.
Ja, Eltern sollen ihren Kindern Mut machen. Unbedingt sogar. Aber doch nicht so, mit einer solchen Show. Hätten meine Eltern es zu meiner Schulzeit gewagt, ein solches Plakat aufzuhängen: Ich hätte mich in Grund und Boden geschämt – und sie zur Adoption freigegeben. Die wären allerdings nie auf die Idee gekommen.
Diese Plakate verraten viel über den deutschen Bildungsdünkel. Welch ein Aufhebens wird um das Abitur gemacht! Die Botschaften verstärken letztlich nur den ohnehin enormen Leistungsdruck auf die Kinder und blähen die Bedeutung des Abiturs noch weiter auf. Verdammt, es ist ein Schulabschluss. Doch für viele Menschen in diesem Land ist er das entscheidende Kriterium, um Mitmenschen zu beurteilen – wie der Bildungsforscher Rainer Dollase von der Universität Bielefeld herausgefunden hat.
Er wollte von 6.500 Männern und Frauen wissen, welche Informationen ihnen wichtig seien, um andere Menschen einschätzen zu können. Die Befragten antworteten bei sechs Stichproben stets gleich: Schulabschluss, Beruf, Alter, Geschlecht, Nationalität, Religion. In genau dieser Reihenfolge. Der Schulabschluss steht an erster Stelle – selbst dann, wenn das Gegenüber bereits 60 Jahre alt ist und der Abschluss Jahrzehnte zurückliegt.
Kanzler ohne Abitur?
Welche seltsamen Blüten dieser Dünkel treibt, zeigte sich 2017, als Martin Schulz (SPD) Kanzler werden wollte. Kommentatoren stellten allen Ernstes die Frage, ob ein Mann ohne Abitur überhaupt Kanzler werden könne. Als könne er ohne Abi nicht verstehen, wie Demokratie funktioniert (Kanzler oder Kanzlerin kann werden, wer mindestens 18 Jahre alt ist und die deutsche Staatsangehörigkeit hat. Er oder sie muss nicht mal Mitglied des Bundestages sein).
Durch die Plakate von Eltern vor den Schulen wird die Abiturprüfung vor allem zum öffentlichen Event. Man findet die – teils übersteigerten – Erwartungen von Eltern inzwischen auch in den sozialen Medien. Auf Facebook postete ein Vater einmal das Grundschulzeugnis seines Sohnes. Natürlich war er zu Recht stolz auf die hervorragenden Noten. Aber was geht das die Öffentlichkeit an? Was will er damit sagen? „Seht her, was für ein schlaues Kind ich habe – wie könnte es bei diesem Vater auch anders sein?“
Der französische Soziologe Pierre Bourdieu schrieb: „Wenn vom Klassenkampf die Rede ist, denkt man niemals an seine ganz alltäglichen Formen, an die rücksichtslose gegenseitige Verächtlichmachung, an die Arroganz, an die erdrückenden Prahlereien mit dem ‚Erfolg‘ der Kinder, mit den Ferien, mit den Autos oder anderen Prestigeobjekten.“
Der Erfolg der Kinder ist zum kulturellen Kapital geworden, mit dem das eigene Image aufpoliert wird. Das beginnt mit dem Plakat vor dem Schulhof. Man wird in den nächsten Jahren zusehen können, wie die Plakate immer professioneller gestaltet werden und wie der Wettbewerb von Eltern am Schulzaun ausgetragen wird. So wie früher Abifeten gefeiert wurden, während es heute Bälle sind, die fünfstellige Summen kosten.
Die reichsten Deutschen haben Hauptschulabschluss
Und was ist mit jenen, deren Eltern keine Zeit oder Lust haben, so ein Plakat zu gestalten? Ermutigungen gehören nicht in die Öffentlichkeit. Und was, wenn das Kind trotz Plakat durchs Abitur fällt? Hoffentlich stand dann vorher auf dem Plakat das, was die Eltern einer Kollegin schrieben: „Wir lieben Dich trotzdem, auch wenn es nicht klappt.“
Die Liste derer, die durchs Abitur gefallen oder gar nicht erst angetreten sind, ist lang: Literaturnobelpreisträger Thomas Mann und sein Bruder Heinrich, Hermann Hesse – ebenfalls Literaturnobelpreisträger – und Wilhelm Conrad Röntgen, Physik-Nobelpreisträger, der wegen Disziplinlosigkeit von der Schule flog, bevor er das Abitur machen konnte.
Beispiele aus der Gegenwart gefällig?
Drogeriemagnat Dirk Rossmann und Klamottenunternehmer Robert Geiss, der eine Milliardär, der andere Multimillionär, haben Hauptschulabschluss. Beide selfmade. Oder Arbeitsministerin Bärbel Bas (SPD). Sie besuchte nach der Hauptschule so viele Fortbildungen, dass der Platz hier nicht reicht. Albert Einstein soll gesagt haben: „Das Einzige, was mich beim Lernen stört, ist meine Bildung.“ Heute sind es leider oft die ehrgeizigen Eltern. Aber echte Unterstützung braucht keine große Bühne.